Es ist Montag, 6:30 Uhr. Meine sechsjährige Tochter steht mit hinter dem Rücken verschränkten Armen in der gegrätschten Vorbeuge. „Hey, du machst ja Yoga.“, spreche ich sie an. Sie richtet sich auf und erklärt mir betont geduldig: „Nein, Mama. Das ist Frühsport.“
Auf die Frage „Ist Yoga ein Sport?“ höre ich aus meinem Umfeld unterschiedliche, spontane Antworten:
„Ja, weil du dich dabei bewegst.“, antwortet mein siebenjähriger Sohn.
„Nein, weil man sich nicht misst.“, meint mein Mann.
„Ja, weil ich mich dabei körperlich verausgabe. Bis vor drei Wochen hätte ich gesagt: Lullefut-Gymnastik, aber mit dem neuen Kursleiter ist es definitiv Sport.“, erläutert eine Freundin.
„Ja, oder wie betreibst du Yoga?“, fragt mein Arbeitskollege zurück.
„Ja klar, Vinyasa ist Sport. Vinyasa ist auch Atmung. Das ist anders als in anderen Sportarten.“, antwortet eine Yogalehrerin.
Eine Wissenschaftsjournalistin resümiert wie folgt: [1]
„Für die einen ist Yoga eine Sportart, für andere eine Form der Esoterik, wieder andere genießen das gemeinsam Erlebnis unter Gleichgesinnten oder die Entspannung und den Ausgleich zum Alltagsstress. […] Für viele Praktizierende heute ist Yoga eine Sportart.“
Jede Antwort für sich leuchtet ein. Die Frage beinhaltet all diese Aspekte: sich bewegen, sich messen, sich verausgaben, den Atem verbinden. Doch was vergleichen wir eigentlich miteinander? Was ist Sport und was ist Yoga?
Sport ist eine gezielte und regelgebundene, körperliche Aktivität
Nach Brockhaus ist Sport eine „[…] Sammelbezeichnung für die an spielerischer Selbstentfaltung sowie am Leistungsstreben ausgerichteten vielgestaltigen Formen körperlicher Betätigung, die sowohl der geistigen und körperlicher Beweglichkeit als auch dem allgemeinen Wohlbefinden dienen sollen.
Sportliche Aktivitäten werden zumeist um ihrer selbst willen und aus Interesse an der Überwindung von Schwierigkeiten ausgeübt, sind regelgebunden und werden im freiwilligen Wettkampf und in eigens dafür bestimmten Organisationsformen gepflegt.“ [2]
Yoga ist die Schule des Geistes
Yoga ist nach Patanjali citta vrtti nirodhah[3]: Das zur Ruhe kommen unseres Geistes, unseres Denkorgans. Es geht darum, die Gedanken und alles um sie herum – Gefühle, Erinnerungen, Vorstellungen, Wissen, usw. – auf ein und dasselbe Thema zu lenken.[4]
Diese beiden Definitionen klingen erst einmal kaum übereinstimmend. Sport ist das Körperliche und Yoga das Geistige. Doch so einfach ist nicht zu reduzieren, denn Wirkung und Methoden führen Körper und Geist sowohl beim Yoga als auch beim Sport zusammen.
Die bei uns häufig praktizierte Übungsform des Yoga funktioniert über körperliche Haltungen, um die Gedanken zu fokussieren: Der Geist wird mittels physischer Bewegung zur Ruhe gebracht. Sportstudios und Sportvereine bieten Yogakurse an.
Viele Menschen treiben Sport, um den Kopf frei zu bekommen. Wenn man sich beispielsweise beim Tennis auf den Ball und kleinste Bewegung des Gegenübers konzentriert und sich fokussiert, kommt man dadurch innerlich zur Ruhe. Der Jogger, der bei einem längeren Lauf in einen Flow kommt, löst durch seine körperliche Bewegung die Gedankenflut in seinem Kopf auf.
Tennis ist Tennis. Aber Yoga ist nicht gleich Yoga
Wenn uns jemand erzählt, er oder sie spiele Tennis, stellen wir uns das vermutlich alle recht ähnlich vor. Wir wissen, ein Tennisplatz ist mit Linien begrenzt und man nutzt einen speziellen Schläger, um den Ball über das Netz zu bekommen. Es gibt klare Regeln, die bestimmen, wie Tennis funktioniert.
Beim Yoga gibt es kein festes Regelwerk, sondern viele verschiedene Möglichkeiten des Praktizierens. In der medialen Präsenz wird uns suggeriert, es ginge beim Yoga im Wesentlichen um spektakuläre Positionen und eindrucksvolle Gelenkigkeit des Körpers. Doch Yoga ist tatsächlich sehr individuell.
Die Wurzeln unseres modernen, westlichen Yogas hat Tirumalai Krishnamacharya zu Beginn des letzten Jahrhunderts gelegt. Er stellte die körperliche Asana-Praxis in den Mittelpunkt und vermittelte seinen Schülern stets einen individuellen Weg.[5] Darauf basieren unsere heutigen Yogastile. Yoga passt sich an den Menschen an.
Sport ist messbar. Yoga nicht. Oder doch?
Bei vielen Sportarten geht es um Zeit oder um Punkte bzw. um das, was ich mit meinem physischen Körper erreichen kann. Man vergleicht sich mit anderen oder mit den eigenen bisherigen Leistungen. Beim Yoga misst man sich per Definition eigentlich nicht. Dennoch verleiten einige fitnessbetonte Stile durchaus dazu, nach Verbesserung zu streben und zu vergleichen. Zudem gibt es beim Yoga auch die manchmal nicht vermeidbaren Vergleiche im Kopf, wenn man schaut, wie andere die Yogapositionen ausführen und darüber die eigene Ausübung innerlich bewertet.
Beim Sport sind Wettkämpfe üblich. Man misst sich öffentlich mit anderen. Das gibt es beim Yoga auch: „Im Juni 2014 fand beispielsweise die jährliche World Yoga Sports Championship in London statt. 100 Yogis aus 15 Ländern trafen in drei Kategorien von Yoga-Challenges aufeinander. In einem Zeitfenster von drei Minuten mussten die Athleten sieben verschiedene Yoga-Positionen demonstrieren. Eine Jury bewertete dann Flexibilität, Technik, Balance und Stärke der Teilnehmer. Seit dem gibt es jedes Jahr Yoga-Wettkämpfe auf der ganzen Welt.“[6]
Die International Yoga Sports Federation lädt aktuell zu einem virtuellen, internationalen Wettkampf ein und hat auf ihrer Webseite genaue Regularien und Bewertungsmaßstäbe definiert. [7]
Machen wir es uns bewusst
Bei der Ausübung der meisten Sportarten spürt man nicht unbedingt bewusst in sich hinein. Man horcht nicht wie beim Yoga gezielt, wie es einem wo gerade geht. Man setzt sich beim Sport auch eher selten eine gedankliche Intention, was beim Yoga durchaus üblich sein kann.
Wir atmen ein und wir atmen aus. Die Atmung wird beim Yoga bewusst ausgeführt und das tut man beim Sport meistens nicht. Durch die Kontrolle des Atmens und die gezielte Anwendung von Atemtechniken nimmt man beim Yoga Einfluss auf das Nervensystem.[8] Das ist ein signifikanter Unterschied zwischen Yoga und Sport.
Yoga ist ein Sport. Und mehr
Wenn ich die Körperübungen des Yoga nutze, um physisch fitter zu werden oder um mich mit mir selbst oder anderen zu messen, ist mein Yoga in diesem Moment wie Sport.
Genauso kann Sport eine Form von Yoga sein, wenn er als Mittel der Konzentration meiner Gedanken und der Beruhigung meines Geistes dient. In solchen Momenten kann dieser Sport mein Yoga sein.
Durch die Einbeziehung der Atemtechniken, den stetigen Übungen den Geist zu beruhigen und vor allem durch die Individualität bei der Ausführung ist Yoga jedoch mehr als eine durch Regeln bestimmte Sportart.
[1] C. Felchner, 28.07.17, netdoktor.de
[2] https://brockhaus.de/ecs/enzy/article/sport
[3] „Yoga ist der Zustand, in dem die Bewegungen des Citta [des meinenden Selbst] in eine dynamische Stille übergehen“, R. Sriram, „Das Yogasutra Von der Erkenntnis zur Befreiung“, S. 32
[4] R. Sriram, „Das Yogasutra Von der Erkenntnis zur Befreiung“, S. 152
[5] I. Schöps, „Yoga Das große Praxisbuch für Einsteiger & Fortgeschrittene“, S. 43
[6] A. André, eversports.com, 27.3.2018
[7] https://www.iysf.org/events
[8] A. Swanson, „Yoga verstehen“, S. 30